© Jürg Stauffer
Ein Bach schlängelt sich durch ein kleines Tal im Schweizer Mittelland und teilt es in einen westlichen und einen östlichen Teil. Auf beiden Seiten des Bachs die gleichen grünen Wiesen, die gleichen runden Hügel und die mit Wald bedeckten Höhenzüge. Nichts verrät, dass der kleine Grenzbach Rot Abschnitt einer der bedeutendsten Kulturgrenzen der Schweiz ist. Doch wer im Tal genauer hinschaut, hinhört oder sich sogar auf die Suche nach kulinarischen Spezialitäten macht, wird diese einmalige Kulturgrenze („Brünig-Napf-Reuss-Linie“) sehr bald wahrnehmen. Eine Wanderung im „Rottal der drei Kantone“ (Grenzgebiet Luzern, Bern und Aargau) wird dadurch nicht nur ein landschaftliches, sondern vor allem auch ein kulturelles Erlebnis! Nachfolgend ist aufgelistet, was es im Rottal am Schnittpunkt der westlichen und östlichen Schweiz alles zu entdecken gibt!
Viele Informationen und Tipps für wunderbare Wanderungen gibt es bei www.grenzpfad.ch
Die Rot und die Murg stellten bereits in vorgeschichtlicher Zeit eine Grenze dar, zum Beispiel wurden westlich und östlich davon verschiedene Arten Keramik gefunden. Wie erst in den letzten Jahren bekannt wurde, befand sich in der Zeit der Kelten beim heutigen Roggwil eine Stadt. Seit 2018 wird sie als eines der 12 „Oppida“ angesehen, die Cäsar in einem Bericht über den Gallischen Krieg erwähnte. Mehr dazu in der Bernerzeitung.
Während der Römerzeit war das Gebiet aber wenig besiedelt. In Grossdietwil, im Gebiet der heutigen Kirche, wurden die Spuren einer grossen Villa gefunden, während auch der Name „Murhof“ bei St.
Urban auf die Überreste römischer Bauten deuten soll.
Erst mit dem Vordringen der Alemannen erfolgte wieder eine dichtere Besiedlung. Zuerst wurden die Orte mit den Endungen -ingen und -ikon, später die mit der Endung -wil gegründet. Heute fällt auf
der Karte die hohe Dichte an -wil-Orten auf.
Mit der Aufteilung des fränkischen Reichs im Mittelalter bekam die Rot-Murg-Grenze erneut Bedeutung. Unter anderem ist dies ein Grund dafür, dass sich im Gebiet schweizweit gesehen die meisten
Überresten von Erdburgen finden lassen.
In unserer Zeit wird die Rot von den Leuten beider Seiten liebevoll als "Jordan" bezeichnet (ännet em Jordan!). Sie vereint sich unterhalb Roggwil zuerst mit der Langete und wird zur Murg, welche
kurz darauf in die Aare mündet. Die Rot ist somit ein Teil des Entwässerungssystems der Aare, also des Aar-Gau.
Der Kt. Luzern ist alemannisch geprägt, beim Kt. Bern handelt es sich hingegen um ein Mischgebiet, in dem sich alemannische mit burgundischen Einflüssen vermischt haben. So gibt es auf beiden
Seiten der Grenze deutliche Unterschiede im Dialekt, komplett andere Jasskarten, andere Viehrassen, weitgehend andere Familiennamen, Abweichungen in der Architektur, etc. (siehe dazu auch
Napf-Grenzpfad-Broschüre "Die Brünig-Napf-Reuss-Linie").
Auch in der Gegenwart sind die Gebiete selten in den selben Einheiten zu finden. Zum Beispiel bildet die Rot die Grenze zwischen den Wirtschaftsräumen Mittelland und Zentralschweiz sowie zwischen
den Rekrutierungsgebieten der Armee 21. So werden von der Topografie her gesehene "Zwillingsdörfer" wie z.B. Altbüron LU und Melchnau BE oder Roggwil BE und St. Urban LU auch in Zukunft oftmals
ganz unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt sein. Dazu tragen auch unterschiedliche Medien wie Zeitungen, Regionaljournale und amtliche Publikationen bei.
Das ehemalige Kloster St. Urban war vor seiner Auflösung 1848 dank den Verbindungen und dem Einfluss der ansässigen Zisterziensermönche ein Zentrum im Schweizer Mittelland. Es war über
historische Verkehrswege mit den grossen Städten wie Basel, Luzern, Bern und Zürich verbunden. Die ehemalige Bedeutung des Klosters wird beispielsweise durch die grosszügige Architektur der
Klosterkirche sowie dem berühmten Chorgestühl illustriert und lässt sich ein Stück weit nachempfinden, wenn alljährlich im Oktober Tausende die St. Urbaner Kilbi besuchen.
In St. Urban gab es aber auch besonderes Handwerk wie die Herstellung von schön verzierten Ziegelsteinen. Seit 1992 stellt Richard Bucher, der "einzige Klosterziegler der Welt", diese zierlichen
Ziegel wieder in St. Urban her. Die Mönche förderten die Wässermatten, den Obstbau und betrieben im grossen Stil Teichwirtschaft. St. Urban war ferner ein Zentrum für volkstümliche Musik! So
wurde etwa das Wort „Alphorn“ 1527 erstmals in den Annalen dieses Klosters erwähnt.
Heute erstrahlt das ehemalige Kloster dank einer Renovation in neuem Glanz. In seiner Umgebung werden zudem grosse Skulpturen verschiedener Künstler aus dem In- und Ausland ausgestellt.
Weitere Informationen zum ehemaligen Kloster St. Urban: www.st-urban.ch
Die Bewirtschaftungsform der Wässermatten war früher im Mittelland weit verbreitet. Heute findet man sie fast nur noch im Rottal und im Tal der Langete. Beim Wässern der Wiesen geht es nicht vorrangig um die Befeuchtung des Bodens, sondern es ist eine Form der natürlichen Düngung mit Mineral- und Schwebstoffen aus dem Bachwasser.
Mehr zu den Wässermatten auf unserer Seite Wässermatten im Rottal.
Unzählige Karpfenteiche prägten einst die Landschaft um das Kloster St. Urban. Fische waren für die Zisterziensermönche ein wichtiger Proteinlieferant, da Fleischkonsum ganzjährig untersagt war. Aber auch für Landadel und Städter waren sie eine beliebte Speise etwa in der Fastenzeit. Im 19. Jahrhundert verschwanden die meisten der Teiche.
Seit bald 20 Jahren erlebt die Teichwirtschaft nun eine neue Blüte:
2006 wurde, initiiert vom Verein Lebendiges Rottal, der Verein Karpfen pur Natur gegründet. Seither ist eine ganze Reihe von naturnahen Teichen neu gebaut worden.
Mehr dazu auf unserer Seite Die Rückkehr der Karpfen.
Im ganzen "Rottal der drei Kantone" finden sich (Bauern-) Häuser mit Berner Einschlag. Traditionelle Höfe mit getrenntem Wohnhaus und Scheune wie im östlichen Teil der Schweiz stellen den
Ausnahmefall dar. Die Häuser im Luzerner Teil weisen auf der Stirnseite meist ein "Vordach" auf. Bei Häusern Richtung Innerschweiz sind mehrere Vordächer charakteristisch.
Hingegen ist davon beispielsweise in Melchnau BE nichts mehr zu sehen. Vielfach wird da der Platz des Vordachs von einer Laube eingenommen. Das Vordach findet sich auch bei den Klosterscheunen in
St. Urban (Grangien), diese unterscheiden sich aber deutlich von den anderen Scheunen im Tal. Sie haben Torbogen aus Stein und die Wohnhäuser sind von den Scheunen getrennte Riegel- bzw.
Backsteinbauten. Im Rahmen einer Klosterhof-Velotour können diese speziellen Klosterhöfe im Raum St. Urban entdeckt werden: Klosterhof-Velotour
Es fliessen im Rottal also Elemente von drei Bauernhaustypen zusammen. Siehe dazu auch Napf-Grenzpfad-Broschüre "Architektur und Sehenswürdigkeiten".
Die Rot bildet auch die Grenze für kulinarische Spezialitäten. So ist beispielsweise die Luzerner Spezialität "Zegerchrosi" bereits in Melchnau (die Gemeinde stösst an den Kanton Luzern) nicht mehr bekannt und wird in der örtlichen Käserei auch nicht hergestellt. Während im Kanton Bern der Haselnusslebkuchen typisch ist, wird im Luzernischen der braune Lebkuchen (mit Birnhonig) gegessen. In der Zentralschweiz gibt es viele Spezialitäten mit Birnen und Äpfeln wie eben das "Zegerchrosi", aber auch "Birewegge" oder "Schnetz ond Möcke". Gemeinsam ist den beiden Kantonen bzw. der ganzen Region übrigens der „Kilbilebkuchen“.
Mehr dazu im Rottaler Genussfenster
Etwas was im "Rottal der drei Kantone" besonders auffällt, ist die "unsymmetrische Sakrallandschaft", das heisst das Kloster St. Urban, die grossen Kirchen, die vielen Kapellen und die sehr
verbreiteten Wegkreuze im Luzernbiet auf der einen Seite der Rot und die reformierte Nüchternheit auf der anderen Seite dieses kleinen Grenzflüsschens. Hingegen verband vor der Reformation die
Pfarrei Grossdietwil die meisten Dörfer des Tals zu einer einzigen Glaubensgemeinschaft.
Mit der Reformation gab es nicht nur eine Glaubensgrenze mitten durchs Tal, sondern im Rahmen des „Bildersturms“ wurden verschiedene Sakralbauten wie z.B. die Kapelle des Pilgerortes Fribach bei
Gondiswil restlos zerstört.
Es gibt auch sehr grosse Unterschiede bei der Volksfrömmigkeit, beim Aberglauben und vor allem bei den Sagen! Während Sagen im Luzerner Teil für die ältere Generation praktisch noch zum Alltag
gehören (siehe Buch "Sagenhaftes Hinterland"), gibt es im Berner Teil fast keine oder sie sind viel weniger präsent (Jahrbuch des Oberaargaus 1979/77/76). Auch das Weihwasser oder die Agathafeier
(Jahresversammlung der Feuerwehr), Selbstverständlichkeiten für die Luzerner, sind ein paar Kilometer weiter im Kanton Bern unbekannt.
Siehe auch Napf-Grenzpfad-Broschüre „Die Reformation“.
Das Rottal wurde immer wieder zur Frontlinie feindlicher Mächte (Reformationswirren, Villmerger Krieg, Sonderbundskrieg (Film "Grenzgänger")). Der letzte Krieg liegt nur etwas mehr als 170 Jahre
zurück!
Siehe dazu Napf-Grenzpfad-Broschüre "Der Sonderbundskrieg von 1847".
1874 begannen die Zentralbahnen mit dem Bau einer zweispurigen Bahnlinie von Langenthal über Altbüron nach Wauwil. Neben einem "Probierloch" im Wald zwischen Langenthal und St. Urban zeugen auch ein ungenutzter Eisenbahndamm sowie ein Eisenbahntunnel (heute ein Wasserreservoir mit 9 Mio. Liter Wasser) in Altbüron von diesem gescheiterten Grossprojekt (Siehe dazu auch Napf-Grenzpfad-Broschüre "Die Eisenbahn"). Auch die Schmalspurbahn der Aare-Seeland-Mobil (ASM) verkehrt statt bis Melchnau nur noch bis St. Urban. Mehr dazu bei www.bahntrail.ch und www.melchnauerli.ch
Weiter unten im Tal wurden die imposanten Arbeiten für die Bahn 2000 nach der Jahrtausendwende fertig gestellt. Neben der Zerstörung von Lebensräumen brachte sie auch Aufwertungen mit sich.
Südlich vom Tal, bei Zell, verkehren zudem die Züge der BLS (vormals Regionalverkehrs Mittelland), die Gegend ist also für Bahnfreunde ein echtes Tummelfeld und kann dank dem schwachen
Verkehrsaufkommen auch mit dem Velo sehr gut erkundet werden.
Laut einer 2005 präsentierten Studie des ETH-Studios Basel gibt es in der Schweiz drei "Stille Zonen": Ost, West und Mitte. Das "Rottal der drei Kantone" liegt ganz im Norden der Stillen Zone
Mitte, welche sich grossflächig um das Napfbergland erstreckt und von den Agglorationen Bern, Basel, Zürich und Luzern umgeben ist.
Und tatsächlich lässt sich diese Stille Zone fast auf jeder entsprechenden Karte oder Abbildung mühelos erkennen. Beispielsweise nimmt die Abdeckung für die mobilen Telefone hier stark ab, gibt
es zunehmend weniger Filialen der Grossverteiler oder die "Lichtverschmutzung" (unbeabsichtigte Beleuchtung) lässt nach. Bereits im Rottal kann man den Sternenhimmel in der Regel viel besser
erkennen als in den nahen Kleinstädten des Mittellandes. Zudem lässt es sich hier auch am Tag Ruhe finden und der Blick bleibt nicht ständig an Häusern oder Infrastrukturbauten hängen.
So bedrohlich wie der Ausdruck "Stille Zone" für die Einheimischen manchmal auch tönen mag (er tönt wohl nach wirtschaftlichem Rückzug und Entvölkerung), so unmissverständlich zeigt er auf,
welches die Stärken dieser Region in der "Schweiz der zusammenwachsenden Agglomerationen" sind. Der Verein Lebendiges Rottal setzt sich dafür ein, dass diese Stärken auch als solche erkannt
werden.